Gedanken zum Nachdenken
Die Sorgen um meine Zukunft lähmten die Unbeschwertheit und legten sich wie erdrückende Bleiklötze über meinen eingezimmerten Geist. Ich wollte die kräftezehrende Last loswerden, mich von der Enge befreien und konzentrierte meine Gedanken und meine Sinne daher auf das ebenso unbestimmbare wie unmittelbare Hier und Jetzt. Der erste Moment dieses entlastenden Erfahrungszustandes glitt mir durch die halbgeschlossenen Finger, wie der von mir nun aufgegriffene feine Sand, der nach seiner langen Trockenheit jeder Form und Kraft entwich. Am Ende des Abfließens, als die letzten in der Sonne aufblitzenden mineralischen Granulate meiner Hand entglitten, fand ich schließlich einen festen Platz in meiner sinnlich-gedanklichen Wolke. Die herabfallende Sonne ließ die Zeit spürbar werden, wie zuvor der Sand den Augenblick. Das Sonnenlicht brannte sich durch meinen Körper in den Geist. Mir wurde heiß. Heißer als sonst. Wieso nur hatte ich gerade jetzt das dringende Verlangen verspürt, Sand in meinen Händen zu halten? War es ein taktiles Erlebensbedürfnis? War es der schlichte Wunsch, der langen Weile ihrer Trägheit zu berauben. Vielleicht war ich es nur, der nach sich selbst griff, um sich des Fallens wegen aufzuheben. Ich ließ nun auch die Gedanken fallen und blickte auf die Ursache.
Die Kinder sind auf dem Spielplatz beschäftigt. Sie liegen in der Netzschaukel und versuchen mit allen Mitteln der Physik ihren Schwingungen kinetische Energie zuzuführen. Die Beobachtung dieses spielerischen Treibens erinnerte mich an das eingeschlafene Gefühl von Leichtigkeit aus meiner Kindheit. Der spielerische Ernst, mit dem die Kinder pendelhaft ihr Schwingungsziel, Höhe und Weite zu gewinnen, erkämpften, rief vergessene Gefühle aus der Sandgrube meiner wohlgenährten Biografie hervor. Im Nachempfinden dieser lebensnahen Szenerie, spürte ich ferne Momente aus meiner Vergangenheit auf. Ich wurde fündig, schlich ihnen nach und fühlte durch die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, wie sich die zunehmenden Schwingungskräfte des Schaukelns in meinen Körper einschrieben, wie das Vertrauen in die physikalischen Gesetze entstand und sich mit jeder Schwingung vergrößerte. Die Gefahr, die anfangs in Form von Zweifeln aufgrund des Ungleichgewichts durch die Pendelbewegungen spürbar war, nahm nach und nach ab. Die mit dem Ausreizen der Schwingungen verbundene Angst wurde zu einer lustvollen Mutprobe. Plötzlich war auch ich wankend und trunken vor Glück.
Schaukeln, so dachte ich und kehrte ernüchtert in mein erwachsenes Bewusstsein zurück, ist die Hingabe in eine Unsicherheit, die funktioniert. Gerade das machte den Spaß wohl aus. Schaukeln soll Spaß machen, dafür ist eine Schaukel in erster Linie konstruiert. Also, so schloss ich weiter, ist die Unsicherheit Teil ihres Funktionierens. Um die Magie des Schaukelns in vollem Umfang erleben zu können, muss man also den Raum der vorhandenen Sicherheit verlassen. Das Verlassen der erprobten und bewährten Sicherheit des Gleichgewichts beim Gehen zugunsten der Lust am Spiel eines unerprobten Stroms, geben der Furcht einen Spielraum, in dem sie sich die Ansprüche nach Sicherheit verändern. Im Schaukeln geht man einen profitablen Tausch ein, der auch als Sinnbild für die Liebe funktioniert. Man gibt etwas von seiner Sicherheit auf und erhält dafür den Reichtum eines intensiven Glücksgefühls. Doch Kinder lieben unbeschwerter, wohl deswegen, weil sie das Fallen nicht fürchten. Vielleicht aus Mangel an Erfahrung mit dem Fallen.
Leben, so lehrte mich die Beobachtung des kindlichen Treibens, ist ein Wachsen an den schöpferischen Wechselspielen des Ungleichgewichts. Wer zu viel bedenkt, der geht keine Wagnisse ein und verpasst damit die bereichernden Gaben der Intensivierung des Spürbaren und des Machbaren. Im Kind liegt viel von diesem Glück. Oft begräbt sich dieses Glück der Leichtigkeit nach und nach unter einer anwachsenden Schicht aus bodenständiger Sicherheit.
Die Kinder waren satt, taumelten mir entgegen und wir nahmen schwerelos den Weg zurück nach Hause auf. Wir freuten uns alle schon auf das Mittagessen, während unser Geist die neuen Erfahrungen bereits verdaute.
Januar 2021