Gedanken zum Nachdenken
Die Suche nach Lebensglück ist immer auch eine schmalspurige Gradwanderung und nicht jeder Fuß ist gleichermaßen oder überhaupt für schmale Grade gemacht. Mit anderen Worten: Das Glück des Lebens ist eine Maßanfertigung und bedarf einer Fülle, unter der jeder auch etwas eigenes versteht. Ebenso ist nicht jede zu füllende Lebensleere gleich groß. Die Glücksfüllung des Lebens, so gibt dieser kurze Text zu verstehen, ist eine Kunst, die sich, bis zu einem gewissen Punkt, immer auch gegen sich selbst zu richten scheint.
Menschen möchten ein volles, ein sattes Leben. Sie möchten, sei es auf direktem oder indirektem Wege, Glück erfahren. Auch wenn das Glück bei allem Streben ein entscheidender Faktor und Maßstab für unser Handeln ist, so würde die Fülle und Sättigung des Lebens nicht glücken, wenn die leidvollen Momente nicht ihren Anteil leisten würden. Unerwünschte Momente, die gleich Einschnitten die makellose Epidermis der Lebenshülle aufritzen, können Narben in Form Erinnerungen hinterlassen. Doch die Inkorporierung von Leiderfahrungen, verleiht immer auch einen zumeist unsichtbaren Mehrwert, der deswegen unsichtbar bleibt, weil er von dem Fokus auf den Verlust und den Schmerz überschatten wird. Als ich dies begriff war ich zu nüchtern, um den Rausch der leidvollen Erfahrungen mit Würde und Optimismus annehmen oder gar auskosten zu können. Auch schwere Kost will genoßen werden, aber sie kann eben nur gekonnt genossen werden.
Die Ein- und Rückschläge in den unschuldigen Anfängen der partnerschaftlichen Liebe hätte mir niemand schön reden können, doch die Schmerzen auf diesem unumgänglichen Zehrweg führten mich letztlich zu neuen emotionalen Aussichtspunkten. Anders ausgedrückt: Der Schmerz des realmetaphorischen Herzbruches erweitert den von der Liebe als unendlich geglaubten Horizont. Leid, so das traurige Resümee, ist schöpferisch, ist Bestandteil der emotionalen Evolution einer jeden Liebesbiografie.
Die Flugmanöver der Liebe entziehen nicht nur den Boden unter den Füßen, um schwerelos in das flatterhafte Glück zu tauchen, sie lassen den unbeschwert Lebenden im Fall auch die Härte des Aufpralls spüren. Stürze aus weiter Höhe schmerzen, verursachen Wunden und hinterlassen oft auch Narben. Auch Herzen und Seelen können vernarben. Auf einige Narben kann man später vielleicht Stolz sein, zumindest aber wird man nur mit ihnen zu dem, was man ist. Auf andere Narben würde man lieber verzichten. Sie erinnern uns oft eher an den Schmerz als an den Zugewinn der damit einhergegangenen oder einhergehenden Erfahrung.
Alle Verletzungen führen zu Vernarbungen und diese machen die mit ihnen verbundene Schmerzerfahrung oft noch für eine lange Zeit real spürbar. Die mit einer Narbe verbundenen Schmerzerfahrungen können Seßhaft werden und sich einnisten wie ein Phantom, das unseren Blick auf die Realität verdunkelt. Die Nomaden unter den Schmerzen sind uns lieber, nur ist nicht jeder zum Nomadentum fähig.
Wenn die Angst vor dem Schmerz ihren festen Wohnsitz in unserer Realität einnimmt, dann kann sie selbst die Hoffnung auf einen Genesungsprozess phantasmatisch überschatten. Selbst, wenn es keinen physischen Grund mehr für den Schmerz gibt, so verhindert der Glaube daran die Abkehr davon. Die Narbe wird zu einem unüberwindbaren Trauma, zu einer Gefühlsgrenze und Denkblockade.
Das Leben kann nicht beliebig gefüttert werden. Es gibt Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Nahrungsmittel, die man sich nicht leiste kann, die man nur in Maßen essen sollte oder darf, fast-food aus Mangel an Zeit, Ekel vor kulturfernen Essgewohnheiten, ethische und ökologische Folgen des Essverhaltens etc. Die ersehnte Sattheit des eigenen Lebens lässt sich also niemals ohne Einschränkungen erreichen. Satt sein bedeutet für die meisten Menschen, keinen Hunger mehr zu haben und nicht, den ganzen kulinarischen Reichtum, unter Wahrung der ethischen Gebote der Nachhaltigkeit und der Lebenswerte, für sich auszuschöpfen.
Ein volles Leben ist also per se ein Leben, das nur relativ voll ist. Relativ zu dem, was man gewohnt ist, was man als wertvoll erachtet, was man will. Alles will man in der Regel nicht, um das Gefühl von Fülle zu erlangen. Wer alles will, der lebt gefährlich und zumeist stets unterernährt, mit allen Folgen, die damit verbunden sind. Wer sich dagegen nur auserwählte Nahrungsmittel in hoher Qualität wünscht, der ist in seiner Auswahl und den Möglichkeiten sich zu ernähren eingeschränkt.
Andere wieder, sehen in der Nahrung ein Mittel zum Zweck und essen nach dem Motto: „Hauptsache der Magen ist voll“. Hier können Fehler passieren. Ausreichend Kalorien zu sich zu nehmen bedeutet nicht zugleich, die für die Gesundheit erforderlichen Nährstoffe aufzunehmen. Man kann sich auch Defizite anfressen. Was man auch kann, ist sich aus gutem Grund falsch ernähren. Der im Veganismus praktizierte Verzicht auf etwas, aus Respekt vor dem Leben, kann die Ethik zur Falle werden lassen. Blinder Verzicht lässt kritische Nährstoffe entstehen. Auch hier gilt: Wer nicht weiß was er braucht, schadet sich selbst.
Wenn wir unsere metaphorische Gleichung an dieser Stelle auflösen, so heißt das: Existenzrelevant ist weder guter Geschmack noch der Zugang zu allen Nahrungsmitteln. Was der Mensch zum Überleben benötigt, ist überschaubar und austauschbar, aber er muss auch wissen, was das Überleben lebenswert macht. Mängel in der Ernährung führen auf Dauer zu Krankheiten. Analog dazu führen Lebensmängel zu einem wertlosen Überleben.
Was die Pointe der metaphorischen Gleichung sprengt ist die Tatsache, das Überleben dem Menschen nicht genug ist. Der Mensch möchte das Leben eben nicht nur physisch überleben, er möchte es von innen heraus bis aufs Äußerste erleben. Doch im Streben nach dem Erleben liegt die Gefahr verborgen, sich und die Welt aufs Spiel zu setzen. Das Leben zu füllen wird damit also zu einer Kunst, die im Sinne Jean Baudrillards darin besteht, die Realität dessen zu erhalten, was durch das Ausleben des Eigenen die Tendenz des Verschwindens des Realen nährt. Mit anderen Worten: Leben ist eine Kunst die Werte zwischen den Ansprüchen der Ästhetik der eigenen Existenz und denen der Verantwortung gegenüber all demjenigen, das uns diesen Genuss ermöglicht, zu wahren. Nochmal anders augedrückt: Die Kunst des Lebens besteht darin, das Leben zu riskieren ohne es aus den Händen zu verlieren. Einige Kulturen haben schon jetzt durch die Mediatisierung des Lebens diese Kunst zu einem Oxymoron gemacht.
4. Oktober 2020