Lebenstage 1

Gedankengänge eines schlaflosen Träumers

Ein neuer Tag setzte in sanfter Bewegung sein Licht in Szene und legte den Augen das Altvertraute auf neue Weise offen. Trotz der entblößten Vertrautheiten, waren die Gedanken, mit denen ich diesem Tag begegnete, anders als in den vergangenen. Zumindest bildete ich mir das ein. Egal, ich wollte diesem Tag mehr abgewinnen und beschloss nach Beruhigung des stets wiederkehrenden Hungerreizes, meinen Durst nach Lebens-Erfahrung mit realen Gedankengängen zu stillen. Ich war, was das angeht, zum Ertrinken bereit.

Nach Stilllegung der natürlichen Bedürfnisse, gewann ich ein leichtes Übermaß an nutzbarer Zeit und so entschied ich mich dieses frei nutzbare Kapital in einen Spaziergang auf der städtischen Oberfläche anzulegen. Während ich über den erhitzten Asphalt, durch die sonnengetränkten, von zahlreichen Gerüchen und Geräuschen geschwängerten Einkaufsstraßen glitt und mich zugleich von der Unberührtheit der akustischen Isolation der abwegigen Nebengassen meiner Geburtsstadt führen ließ, erwachte die Lust in mir, über den Sinn und Unsinn des menschlichen Lebens nachzudenken. Nach den ersten gleichsam gedanklichen Abzweigungen, gelangte ich in die Einbahnstraße eines Gefühls von tiefer Unzufriedenheit und Frustration. Im Fortgang auf diesem gedanklichen Weg intensivierte sich mein Gefühl zu leben. Das Kaleidoskop meiner sinnlichen und inneren Wahrnehmung drehte sich und legte eine neue Realität offen, oder war es ein neuer Traum? Es war mir egal. Ich fühlte anders, dachte anders, sah anders. Diese höchstpersönliche Gewissheit reichte mir als Antwort.

Die krummen Bahnen meiner Rundgänge brachten mich in einen neuen Kreislauf. Ich ging nicht mehr allein. Mein Körper ging mit meinem Geist spazieren. Oder war es andersherum? Nicht wissend, wie und warum die Wahrnehmung das Gefühl und das Gefühl der Veränderung erneut die Veränderung des Fühlens, Denkens und Sehens bewirkt haben könnten, setzte ich meine Spaziergänge fort. Das neue Lebensgefühl fühlte sich an, wie eine befremdliche Gewohnheit. Von diesem Gefühl eingefangen, versuchte ich das Leben zu verstehen. Doch mein Bemühen ergab keinen Sinn. Warum, dachte ich, ist diese Art des Nachdenkens entstanden? Was trägt Nachdenken zum Überleben einer Spezies bei? Was nützt die Tendenz des Menschen, sich mehr zu denken als das, was er wahrnehmen kann? Was nützt es, wenn die Hoffnungen von der stummen und gleichgültigen Realität enttäuscht werden? Was nützt uns die Gewissheit der Wissenschaft, wenn sie uns zu verstehen gibt, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen, nur die trügerische Oberfläche des Seienden ist? 

Während ich unter dem kontinuierlichen Einfluss der sinnlichen Eindrücke weiter über das menschliche Leben nachdachte fiel mir auf, dass heute außergewöhnlich viele Männer und Frauen, von den wärmenden Einwirkungen der Sonne animiert, ihre Bekleidung auf das Wesentliche beschränkt hatten. Ich fühlte mich unweigerlich dazu veranlasst auf die modischen Aussparungen oder Unterstreichungen spezifischer Körperregionen zu reagieren und bestaunte, mal heimlich und mal merklich, die unterschiedlich inszenierten Selbstdarstellungen der gezielt oder ziellos flanierenden und systematisch pausierenden Menschen. 

Als vierzigjähriger Mann mit heterosexuellen Vorlieben, wurden meine Augenbewegungen und die dadurch animierten Gedankengänge, eher von dem luftigen Spektakel der weiblichen Aussparungen dirigiert. Die visuelle Komposition der mich umgebenden Reizflut nahm eine solch erotisierende Größenordnung an, dass ich den Faden des Gedankenganges verlor und mir der Sinn nach gedanklicher Tiefe vergangen war. Ich war in die Körperlichkeit aufgetaucht ohne den Übergang zu bemerken, ja sogar ohne ihn bewusst gewollt zu haben. Das limbische System übernahm die Oberhand und hautnahe Gedanken durchtränkten den Kopf mit testosteralen Inhalten. Erotische Phantasien gingen mit mir los und führten meinen Weg in einem neuen Fluss weiter. Meine Aufmerksamkeit war von der parasitischen Lust magnetisiert. Die autonome Feinmotorik, mit der mein Geist die Sinne gesteuert hatte, mutierte schlagartig zu einem fremdgesteuerten Trampeltier. In diesem Zustand, war ich auf das Wesentliche in mir reduziert. In diesem minimalistischen Extremzustand wollte ich nur das Eine. 

Der originelle Geistesblitz, der mich anfangs leitete, war entwichen, entglitten, verflogen. Wie sterilisierter Mehlstaub, der von den Staubblättern der Pflanzenwelt nach einem milden Winter in unbekannte Weiten verweht wird, war der befruchtende Elan der gedanklichen Traumreise verpufft. Ich versuchte zumindest Anteile des Ursprungsgedankens wieder einzufangen, doch es war aussichtslos.

Nun, zwischen diesen beiden Ebenen der Betrachtung hin und her oszillierend, erlosch nun sowohl der Wunsch nach der Tiefe des Geistes als auch das Verlangen der eingefleischten Lust. Ich bemerkte, dass mir nun beides abhanden gekommen war. Meine Gedanken verloren ihren Inhalt. Ich war in einem Dazwischen gefangen, das ziel- und wunschlos auf den sinnentleerten Gassen der Kleinstadt dahinglitt. Dieser Zangengriff der Widersprüche führte zu einer Einsicht: Wie herrlich einfach das Leben ist, dachte ich, und befreite mich damit zugleich aus der Zange. 

Druck- und Teilnahmslos und doch irgendwie erleichtert, nahm ich den Rückweg nach Hause auf. Der heutige Tag hatte die Fülle seiner Reize mittlerweile eingebüßt. Im trostlosen Schoß meiner vertrauten vier Wände angekommen, fiel ich auf mich zurück und fand wieder zu mir. Die reizlose Distanz zeigte ihre heilende Kraft. Hier kenne ich meine Irrgärten. Ich fühle mich sicher. Sicher allein.

Doch die Einsamkeit befreit nicht vom Denken. Ganz im Gegenteil. Das Gefühl der Einsamkeit im Alleinsein birgt Fallen. Die asketische Zwangsjacke meiner Einkehr, führte mich zu einer pietistischen Frage:

Beginnt der Weg der sexuellen Enthaltsamkeit und der Vermeidung von triebhafter Lust, vielleicht mit einer Vermeidung von sinnlichen Anschauungen?
Wenn dem so ist, dann verstehe ich den Wert der Unsichtbarkeit in der Religion. Sichtbarkeit macht uns verwundbar. Optische Reize sprechen uns an, wie charismatische Demagogen das Volk.

Die Lust vergrämt die gedankliche Tiefe, denn die Körperlichkeit ist die Vogelscheuche des Geistes. Nicht selten vertreiben oder verhindern neben den optischen auch akustische Infektionen das Besondere zugunsten eines profanen. In der Zivilisation sind die schöpferischen Gedanken von zahlreichen Quälgeistern umzingelt, doch die Lust ist der virulenteste Eindringling. Wir können der Lust nicht entgehen, weil wir den Körper nicht abwerfen können. Der Körper ist Gehäuse der Lust, aber auch des Lebens. Aber er tötet auch, was das bedachte Leben uns gibt. 

Mir dies bewusst machend, regte sich ein Widerstand gegen den mordenden Eindringling in mir. Ich zog den Schluß: Wenn es der Lust nach Ewigkeit und Wiederholung dürstet, dann gibt es nur einen Weg ihr zu entgehen und das wäre, den Kreislauf ihrer lebenslangen Wiederkehr zu durchbrechen. Aber ist Religion der Ausweg aus dieser unverschuldeten Sinnlichkeit? Ist Religion das Feuer, mit dem der Geist vor Zerstreuung und Fleischeslust gereinigt werden muss, um das Licht der Welt erblicken zu können? 

Der islamische Brauch der Verhüllung von signalfähigen Körperbereichen, die Sichtbarkeit und Körpersprache zu beschränken und sie dem Spielraum der Phantasie des Mannes zu überlassen, hat einen Vorteil, denn Unsichtbarkeit drängt sich nicht auf und kommunikative Filter wie Schleier, schließen zahlreiche mimische Nuancen aus. Und doch kann das Unsichtbare uns quälen und die Reduktion der Sprache auf das Gesprochene, zu einer gefährlichen Gewichtung der Worte verleiten. Vielleicht ist der Glaube an das Wort, sei es das geschriebene oder gesprochene, in solchen Kulturen deswegen so stark, dachte ich. Die Sprache als primäres Mitteilungsmedium und als Alternative zum Sichtbaren macht den Blick bemerkenswerter. Wo sichtbar schönes verhüllt wird, da kann die Lust darauf zur Falle werden. Der Schleier, der das Sichtbare umgibt, mystifiziert die Unsichtbarkeit aber auch das potenziell Sichtbare darin. Wie man es dreht und wendet, am Ende ist das Sichtbare wie das Unsichtbare eine Unsicherheit. Die Falle ist also das menschliche Leben selbst, denn seine Existenz bedarf der Lust. Wir können versuchen der Lustfalle zu entgehen, was die ständige Fokussierung und Kontrolle unserer Aufmerksamkeit erfordert, oder wir können uns von den Fallen des Lebens einfangen lassen und uns von den Überraschungen des Zufalls beschenken oder beschränken lassen. 

Eins wurde mir bei all dem Ermessen klar: Die ästhetische Kastration ist kein Garant für geistige Höhe. Will man seinen Geist entfalten, so muss man die Freiheit, die das Leben bietet, ertragen. 

Die lustreinen Spaziergänge, die den Geist bleifrei beflügeln können, bedürfen der Unschuld des Winters. Die verhüllende Kälte verschont den Geist vor Angriffen von aussen, und das ganz ohne die Fangnetze der Religion. Der Winter ist die Zeit für freizügige Geister, der Sommer für die freizügigen Leiber. Das Denken kennt die Freizügigkeit der Jahreszeiten nicht, es folgt den zeitlosen Verbindungen der Worte. Das Denken ist ein dialektisches Organ. Es braucht den Widerspruch, den Widerstand, um seine Kraft entfalten zu können. Gerne würde ich mein Denken von der Willkür der natürlichen Triebe verschonen und es im Schonraum der Philosophie erziehen. Doch schonvolle Erziehung ist so schwierig. Wie bei einem Organ ist es auch bei einem Kinder unmöglich dieses vor schlechten Einflüssen zu verschonen, ohne zugleich auch gute Einflüsse zu verhindern. Leben ist Handeln und Handlungen können ihren intendierten Zweck, ihr Ziel verfehlen. Der Mensch muss scheitern, um leben zu lernen, um siegen wollen zu lernen. Leben, das heißt, gegen das Scheitern ankämpfen aber es auch zu akzeptieren, wenn es da ist. Die einen verstehen unter diesem Kampf die physische und/oder geistige Fortpflanzung, die anderen den Erwerb von Besitz, für wieder andere besteht der Erfolg des Lebens im beruflichen Erfolg oder in die geglückte Einbindung innerhalb eines sozialen Gefüges. Immer aber, muss die damit verbundene geistige und/oder die leibliche Lust befriedigt werden. Handeln ohne Lust, ist wie eine Hochzeitsnacht ohne Braut, wie Geld ohne Wert, wie essen ohne zu schmecken oder wie ein König ohne Macht. 

Mittlerweile war es spät. Dieser Tag hatte sein Licht für heute verbraucht. Müdigkeit überkam mich. Und wieder legte ich die Wanderlust meines Geistes vertrauensvoll in den Schoß des Zufalls. Dem nackten Zufall des Traumes. 

Juli 2020

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert