Lebenstage 3

Eine Fülle von Gedanken kreiste selbstbewusst in meinem Kopf herum. Oder war es nur mein Körper, der die Kreise vollzog? 

„Wie kann man nur geradeaus gehen, wenn man solche gedanklichen Schleifen dreht?“ fragte ich und brach damit das Schweigen, dass unseren Spaziergang seit einigen Minuten begleitete. 

Mathias schaute mich fragend an.

  • „Was meinst du?“ erwiderte er. 

„Naja“ erwiderte ich, „wir gehen hier seit 15 Minuten diesen gerade verlaufenden Weg entlang. Jeder Schritt, den wir vollziehen, zielt nach vorne. Meine Gedanken biegen aber währenddessen ständig ab, drehen sich im Kreis oder vollziehen Sprünge. Dieser leibliche Widerspruch fühlt sich gerade an, wie eine existenzielle Ambivalenz.“  

  • „Hm, du meinst, dass du lieber kreuz und quer gehen würdest? Quasi deinen Gedankengängen gemäß?“ fragte Matthias, während er versuchte den kontextuellen Rahmen nachzuzeichnen, den ich umrissen hatte. 

„Nein“ erwiderte ich. „Ich meine damit schlicht und ergreifend, dass ich eine Unvereinbarkeit zwischen der Aktionsebene meines Körpers und der meines Denkens feststelle.“ 

  • „Und das überrascht dich?“ fragte Mathias. „Das ist doch nichts Ungewöhnliches. Solche Unvereinbarkeiten oder Widersprüche sind doch irgendwie Teil des menschlichen Lebens. Unvereinbarkeiten begleiten unser Denken, unsere Handlungen sowie Aktivitäten zwischen diesen beiden Ebenen. “

„Ja, das überrascht mich immer wieder. Denn, bei vielem, das wir denken und letztlich vielleicht auch tun hinterfragen wir meistens nicht die Beweggründe und Folgen unseres Tuns. Wir sagen und tun das meiste aus Gewohnheit, weil das Gewohnte einfacher und schneller ist. Auf dieser oberflächlichen Ebene der zwischenmenschlichen Interaktion bleibt unser Horizont beschränkt, aber zumindest sind die Gegenstände erkennbar.“ 

  • „Ist Schnelligkeit und kontextuelle Beschränkung denn ein Nachteil, wenn es darum geht die notwendigsten Informationen auszutauschen? Nur so kann das grundlegende Zusammenleben zwischen uns doch funktionieren?“ erwiderte Mathias.

„Ja, so funktioniert das Zusammenleben in einem beschränkten räumlichen und zeitlichen Rahmen. Aber Leben ist mehr als der Austausch von banalen Informationen. Wir wollen schließlich mehr als nur dieses begrenzte Leben überleben. Wir wollen es auch auskosten, um mal eine kulinarische Metapher ins Spiel zu bringen“

  • „Da würde ich nicht widersprechen. Aber wo siehst du den Widerspruch?“ fragte Mathias. 

„Der Widerspruch besteht in der Tatsache, dass wir das Leben zwar auskosten wollen, aber von den Geschmacksrichtungen, die es in sich birgt, nur einen Bruchteil probieren wollen.“ 

  • Das hängt doch oft unseren mitgebrachten Gewohnheiten oder Ängsten ab. Was wir wie Essen wird in den ersten Lebensjahren durch unsere Eltern vorgegeben. So ist es auch mit allem anderen, was uns in dieser prägenden Anfangszeit widerfährt. Ich glaube, dass sich daraus viele Vorbehalte oder auch Ängste, Vorzüge oder Neigungen entwickeln, die uns später den Zugang zu vielem erschweren oder erleichtern.“ 

„Ja, die einfache Tatsache zu verstehen, dass das, was wir für gewöhnlich Wahrheit nennen, nicht viel mehr als ein Bündel von Gewohnheiten ist, ist nicht die Schwierigkeit. Spannend ist doch, dass wir trotzdem mehr tun wollen oder mehr wünschen als das, was wir tun können oder was wir als Fähigkeit bereits besitzen. Die Gründe dafür sind bei jedem von uns unterschiedlich. Manchmal wollen wir Aufmerksamkeit erregen, manchmal den Kreislauf der Gewohnheiten durchbrechen und etwas ungewöhnliches erleben oder aber wir wollen schlicht und ergreifend das richtige tun.“

  • „Nenn mir ein Beispiel.“ 

„Ein Beispiel. Na gut. Nehmen wir an, dass ein Mensch sich in einer lebensbedrohlichen Situation befindet und wir die Möglichkeit haben diesem zu helfen, dann werden wir es tun, ohne vorher zu wissen, ob unsere Hilfe zum Erfolg führen wird oder ob sie vielleicht aussichtlos ist. Wir handeln also trotz absoluter Gewissheit. Streng formuliert handeln wir trotz Unwissenheit. Niemand würde aber sagen, dass wir deswegen böses im Sinn haben. Ebenso leben wir so, als würden wir niemals sterben, aber wir tun es definitiv. Wir gehen Wege, als wäre ihr Verlauf selbstverständlich. Wir ignorieren also manchmal wissentlich und manchmal unwissentlich wesentliche Tatsachen oder Gefahren hinter den Dingen, die wir tun.“

  • „Das macht aber doch nicht nur menschliches Leben aus. Alles Leben funktioniert so. Vielleicht ist das sogar eine Bedingung der Möglichkeit für Leben. Selbst in der Natur läuft nicht immer alles nach Plan.“ gab Mathias wieder. 

„Was meinst du mit dem Plan der Natur? Gehst du davon aus, dass die Natur einen Plan hat?“

  • „Keinen, der unserer Vorstellung von planvollem Handeln entspricht. Aber in der Natur lässt sich eine gewisse Norm der Gestaltung beobachten, die allerdings auch verfehlt wird. Wie wir, so macht auch die Natur Fehler, ist also gewissermaßen unverbindlich.“

„Vielleicht sind diese Fehler keine Fehler, sondern ein Ausreizen des kreativen Spielraums der Natur.“ Sagte ich. „Vielleicht hat die Natur auch so etwas wie eine künstlerische Ader. Anders als die Natur macht der Mensch aus dem Zufall oder aus der Abweichung von der Norm ein System oder zwängt es in ein solches.“

  • „Zunächst erscheint es mir sinnvoll die Verwendungsweise des Begriffs Fehler zu klären. Ich meinte mit Fehler natürlich Abweichungen von Idealen, die sich aus der menschlichen Sichtweise auf die Natur herleiten. Wir neigten und neigen heute noch oft dazu Abweichungen vom Gewöhnlichen als Fehler oder Anomalie zu bezeichnen. Aber was meinst du mit Abweichung von der Norm?“ fragte Mathias.

„Naja, zum Beispiel genetische Defekte, die das Erbgut verändern. Anders als die Natur, macht der Mensch das gezielt und verändert somit den natürlichen Ablauf der Entwicklung.“

  • „Was meinst du mit natürlich? Hast du Angst, dass irgendwann Menschen designt werden? Spricht denn etwas dagegen gesündere und widerstandfähigere Menschen mit einer höheren Lebenserwartung zu schaffen?“ 

„Es spricht nichts gegen mehr Gesundheit und Lebensqualität aber die Editierung eines Genoms, das unter Bedingungen entstanden ist, die wir nicht kennen halte ich für vermessen, um nicht zu sagen für hybristisch. Ich glaube, um das menschliche Leben verbessern zu können müsste man die Gründe dafür kennen, weshalb die Spezies Mensch die hunderte von Jahrtausenden überlebt und den Weg hierhin gefunden hat.“ 

  • „Gut, das was der Mensch heute ist könnte man ja auch in Frage stellen. Ich selbst tue das nicht, aber wir haben uns ja selbst als die Krönung einer Schöpfung erklärt, über die wir nur wenig bis gar nichts wissen.“

„Da stimme ich dir zu. Aber nicht alle wollen etwas wissen, um sich selbst oder anderen das Leben und die Welt erklären zu können. Es gibt eine nicht zu verachtende Zahl an Menschen, die ihr Vertrauen in die Wirklichkeit und Wahrheit aus dem Glauben schöpft.“ 

  • „Ja, aber auch das macht aus Glauben kein Wissen. Da wirst du wohl zustimmen“ antwortete Mathias, während er gleichzeitig die Augenbrauen hochzog, um die Selbstverständlichkeit dieser Feststellung visuell zu betonen.

„Die Feststellung, dass es gläubige Menschen gibt ist nicht die Pointe“ reagierte ich mit einem provokanten Unterton, um die Aversion gegen die rhetorische Natur des letzten Kommentars auszubremsen. „Ohne den Vorsprung des Glaubens lässt sich keine Wissenschaft beglaubigen. Unsere ganze Physik basiert auf nicht hinterfragbare Hypothesen.“

  • „Wie meinst du das?“ fragte Mathias, während er die vergebliche Anstrengung des Nachvollzugs dieser Aussage durch das Zusammenkneifen seiner Augen ausdrückte.

„Ich denke hierbei beispielsweise an die Duhem-Quine-These. Kennst du die?“ fragte ich. 

  • „Nein“, antworte Mathias, während er performativ den Kopf schüttelte.

„Der Duhem-Quine-These zufolge muss bei der Bestätigung einer Hypothese stets eine Mehrzahl von zusätzlichen Annahmen vorausgesetzt werden, die man niemals alle im Voraus besitzen oder abschließend kennen kann. Kurt Gödel hat das in seinen zwei Unvollständigkeitssätzen in ähnlicher Weise bestätigt. Im ersten Unvollständigkeitssatz heißt es, dass es in widerspruchsfreien Systemen immer Aussagen gibt, die man nicht beweisen kann. Den zweiten bekomme ich nicht mehr zusammen, aber es ging dabei auch um den Zweifel an die Widerspruchsfreiheit von Systemen.“

  • „Ich verstehe gerade nicht, worauf du hinaus möchtest. Möchtest du dich für den Wert des Glaubens aussprechen? Es mag ja sein, dass unsere Wissenschaft von bestimmten Grundaxiomen ausgeht, die nicht beweisbar sind, aber deswegen kann man der Wissenschaft nicht die Erfolge absprechen.“ 

„Nein die der Erfolge ebensowenig, wie die der Fehlbarkeit. Nur weil Wissenschaft in vielen Bereichen Gewissheiten verstärkt heißt das noch lange nicht, dass alles, was man mit ihrer Hilfe tun kann, auch fehlerfrei und richtig ist.“ 

  • „Nun ja, aber trotzdem verbindet uns die Wissenschaft mit der Welt, weil sie uns hilft, die Welt besser zu verstehen. Hätten wir immer alle unsere Erkenntnisse in Frage gestellt, weil wir nicht alle damit verbundenen Hypothesen überprüfen können, dann wären wir jetzt nicht da, wo wir sind.“

„Da würde ich dir nicht widersprechen. Trotzdem zeigt sich in der Wissenschaft die Tendenz, etwas einfach deswegen zu tun, weil man es kann oder weil man den Zweifel nicht erträgt, ob das, was mittels der Wissenschaft möglich ist, auch wirklich getan werden kann.“ 

  • „Und wo siehst du darin die Unvereinbarkeit zwischen dem Tun und dem Denken?“ fragte Mathias, den diskursiven Anfangsfaden unseres Gespräches aufnehmend.

„Es ist die Unvereinbarkeit, die sich in der unentwirrbaren Verflechtung zeigt, die die Textur des menschlichen Lebens hat. Leben führt zu einer Amalgamation von zwei Bereichen, die in ihrer Existenz sehr unterschiedlich sind und deren Existenzen trotzdem nicht ohneeinander denkbar ist.“

  • „Welche Bereiche meinst du?“  

„Na eben die körperliche und die geistige Seite. Sofern man nicht von der Annahme ausgeht, dass wir geistfreie Maschinen sind, die nur der Illusion unterliegen, dass sie mehr als nur Körper sind. Oder glaubst du das etwa?“ Fragte ich, den Zweifel mit meiner Stimme betonend.

  • „Ich weiß es nicht“, antwortete Mathias. 

„Traust du dich nicht etwas zu glauben, was du nicht wissen kannst?“ fragte ich.

  • „Das hat nichts mit trauen zu tun. Es fehlt mir nicht an Mut.“

„Womit denn?“ fragte ich weiter.

  • „Sagen wir mal so, ich kann mit der Unwissenheit leben. Ich kann sie als Konstante in unserem Leben akzeptieren. Du scheinbar nicht.“ antwortete Mathias, während er seine Feststellung phonetisch in das Gewand einer vermeintlichen Frage packte.

„Das Glaubhafte ist immerhin eine Möglichkeit, die Wahrheit enthalten könnte. Bis zu ihrer Vollendung ist es vielleicht noch ein sehr weiter Weg, aber ich erkunde selbst ein scheinbar auswegloses Labyrinth lieber, anstatt mich mit der Ausweglosigkeit anzufreunden.“  

  • „Naja, die Frage, die sich doch stellt, ist doch vielmehr, ob das Labyrinth wirklich ein Labyrinth ist. Das Leben könnte uns wie ein Labyrinth erscheinen und doch nur das sein, was es ist. Eine endliche Abfolge von Gängen und Abzweigungen, die in sich geschlossen ist.“

„Du gehst also auch davon aus, dass alles Wahrnehmbare nur in Abhängigkeit zu uns und nicht für sich besteht?“

  • Ich denke, dass alles, was wir als objektiv dazustellen versuchen, durch die Subjektivität verfälscht wird, die einem jeden von uns anhaftet.“

 Ich stolperte heftig über einen Stein und fiel zu Boden, nachdem Mathias diesen Satz beendet hatte. 

„Tja, das Körperliche ist doch objektiver als uns lieb ist.“ Sagte ich, während ich, auf dem Boden liegend, meine Aussage mit einem Lachen rahmte.

  • „Hättest du mal die gedanklichen Schleifen auch körperlich mitvollzogen“ antwortete Mathias, während er mir seine Hand anbot. „Die Wahrheit des Fallens wäre dir vielleicht erspart geblieben.“ 

„Dann lieber fallen“ antwortete ich, seine helfende Hand annehmend. „Nur wer auch scheitert lernt neues.“

April 2021

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert