Gedanken zum Nachdenken
Eine Fülle von Gedanken kreiste selbstbewusst in meinem Kopf herum. Oder war es nur mein Körper, der die Kreise vollzog?
„Wie kann man nur geradeaus gehen, wenn man solche gedanklichen Schleifen dreht?“ fragte ich und brach damit das Schweigen, dass unseren Spaziergang seit einigen Minuten begleitete.
Mathias schaute mich fragend an.
„Naja“ erwiderte ich, „wir gehen hier seit 15 Minuten diesen gerade verlaufenden Weg entlang. Jeder Schritt, den wir vollziehen, zielt nach vorne. Meine Gedanken biegen aber währenddessen ständig ab, drehen sich im Kreis oder vollziehen Sprünge. Dieser leibliche Widerspruch fühlt sich gerade an, wie eine existenzielle Ambivalenz.“
„Nein“ erwiderte ich. „Ich meine damit schlicht und ergreifend, dass ich eine Unvereinbarkeit zwischen der Aktionsebene meines Körpers und der meines Denkens feststelle.“
„Ja, das überrascht mich immer wieder. Denn, bei vielem, das wir denken und letztlich vielleicht auch tun hinterfragen wir meistens nicht die Beweggründe und Folgen unseres Tuns. Wir sagen und tun das meiste aus Gewohnheit, weil das Gewohnte einfacher und schneller ist. Auf dieser oberflächlichen Ebene der zwischenmenschlichen Interaktion bleibt unser Horizont beschränkt, aber zumindest sind die Gegenstände erkennbar.“
„Ja, so funktioniert das Zusammenleben in einem beschränkten räumlichen und zeitlichen Rahmen. Aber Leben ist mehr als der Austausch von banalen Informationen. Wir wollen schließlich mehr als nur dieses begrenzte Leben überleben. Wir wollen es auch auskosten, um mal eine kulinarische Metapher ins Spiel zu bringen“
„Der Widerspruch besteht in der Tatsache, dass wir das Leben zwar auskosten wollen, aber von den Geschmacksrichtungen, die es in sich birgt, nur einen Bruchteil probieren wollen.“
„Ja, die einfache Tatsache zu verstehen, dass das, was wir für gewöhnlich Wahrheit nennen, nicht viel mehr als ein Bündel von Gewohnheiten ist, ist nicht die Schwierigkeit. Spannend ist doch, dass wir trotzdem mehr tun wollen oder mehr wünschen als das, was wir tun können oder was wir als Fähigkeit bereits besitzen. Die Gründe dafür sind bei jedem von uns unterschiedlich. Manchmal wollen wir Aufmerksamkeit erregen, manchmal den Kreislauf der Gewohnheiten durchbrechen und etwas ungewöhnliches erleben oder aber wir wollen schlicht und ergreifend das richtige tun.“
„Ein Beispiel. Na gut. Nehmen wir an, dass ein Mensch sich in einer lebensbedrohlichen Situation befindet und wir die Möglichkeit haben diesem zu helfen, dann werden wir es tun, ohne vorher zu wissen, ob unsere Hilfe zum Erfolg führen wird oder ob sie vielleicht aussichtlos ist. Wir handeln also trotz absoluter Gewissheit. Streng formuliert handeln wir trotz Unwissenheit. Niemand würde aber sagen, dass wir deswegen böses im Sinn haben. Ebenso leben wir so, als würden wir niemals sterben, aber wir tun es definitiv. Wir gehen Wege, als wäre ihr Verlauf selbstverständlich. Wir ignorieren also manchmal wissentlich und manchmal unwissentlich wesentliche Tatsachen oder Gefahren hinter den Dingen, die wir tun.“
„Was meinst du mit dem Plan der Natur? Gehst du davon aus, dass die Natur einen Plan hat?“
„Vielleicht sind diese Fehler keine Fehler, sondern ein Ausreizen des kreativen Spielraums der Natur.“ Sagte ich. „Vielleicht hat die Natur auch so etwas wie eine künstlerische Ader. Anders als die Natur macht der Mensch aus dem Zufall oder aus der Abweichung von der Norm ein System oder zwängt es in ein solches.“
„Naja, zum Beispiel genetische Defekte, die das Erbgut verändern. Anders als die Natur, macht der Mensch das gezielt und verändert somit den natürlichen Ablauf der Entwicklung.“
„Es spricht nichts gegen mehr Gesundheit und Lebensqualität aber die Editierung eines Genoms, das unter Bedingungen entstanden ist, die wir nicht kennen halte ich für vermessen, um nicht zu sagen für hybristisch. Ich glaube, um das menschliche Leben verbessern zu können müsste man die Gründe dafür kennen, weshalb die Spezies Mensch die hunderte von Jahrtausenden überlebt und den Weg hierhin gefunden hat.“
„Da stimme ich dir zu. Aber nicht alle wollen etwas wissen, um sich selbst oder anderen das Leben und die Welt erklären zu können. Es gibt eine nicht zu verachtende Zahl an Menschen, die ihr Vertrauen in die Wirklichkeit und Wahrheit aus dem Glauben schöpft.“
„Die Feststellung, dass es gläubige Menschen gibt ist nicht die Pointe“ reagierte ich mit einem provokanten Unterton, um die Aversion gegen die rhetorische Natur des letzten Kommentars auszubremsen. „Ohne den Vorsprung des Glaubens lässt sich keine Wissenschaft beglaubigen. Unsere ganze Physik basiert auf nicht hinterfragbare Hypothesen.“
„Ich denke hierbei beispielsweise an die Duhem-Quine-These. Kennst du die?“ fragte ich.
„Der Duhem-Quine-These zufolge muss bei der Bestätigung einer Hypothese stets eine Mehrzahl von zusätzlichen Annahmen vorausgesetzt werden, die man niemals alle im Voraus besitzen oder abschließend kennen kann. Kurt Gödel hat das in seinen zwei Unvollständigkeitssätzen in ähnlicher Weise bestätigt. Im ersten Unvollständigkeitssatz heißt es, dass es in widerspruchsfreien Systemen immer Aussagen gibt, die man nicht beweisen kann. Den zweiten bekomme ich nicht mehr zusammen, aber es ging dabei auch um den Zweifel an die Widerspruchsfreiheit von Systemen.“
„Nein die der Erfolge ebensowenig, wie die der Fehlbarkeit. Nur weil Wissenschaft in vielen Bereichen Gewissheiten verstärkt heißt das noch lange nicht, dass alles, was man mit ihrer Hilfe tun kann, auch fehlerfrei und richtig ist.“
„Da würde ich dir nicht widersprechen. Trotzdem zeigt sich in der Wissenschaft die Tendenz, etwas einfach deswegen zu tun, weil man es kann oder weil man den Zweifel nicht erträgt, ob das, was mittels der Wissenschaft möglich ist, auch wirklich getan werden kann.“
„Es ist die Unvereinbarkeit, die sich in der unentwirrbaren Verflechtung zeigt, die die Textur des menschlichen Lebens hat. Leben führt zu einer Amalgamation von zwei Bereichen, die in ihrer Existenz sehr unterschiedlich sind und deren Existenzen trotzdem nicht ohneeinander denkbar ist.“
„Na eben die körperliche und die geistige Seite. Sofern man nicht von der Annahme ausgeht, dass wir geistfreie Maschinen sind, die nur der Illusion unterliegen, dass sie mehr als nur Körper sind. Oder glaubst du das etwa?“ Fragte ich, den Zweifel mit meiner Stimme betonend.
„Traust du dich nicht etwas zu glauben, was du nicht wissen kannst?“ fragte ich.
„Womit denn?“ fragte ich weiter.
„Das Glaubhafte ist immerhin eine Möglichkeit, die Wahrheit enthalten könnte. Bis zu ihrer Vollendung ist es vielleicht noch ein sehr weiter Weg, aber ich erkunde selbst ein scheinbar auswegloses Labyrinth lieber, anstatt mich mit der Ausweglosigkeit anzufreunden.“
„Du gehst also auch davon aus, dass alles Wahrnehmbare nur in Abhängigkeit zu uns und nicht für sich besteht?“
Ich stolperte heftig über einen Stein und fiel zu Boden, nachdem Mathias diesen Satz beendet hatte.
„Tja, das Körperliche ist doch objektiver als uns lieb ist.“ Sagte ich, während ich, auf dem Boden liegend, meine Aussage mit einem Lachen rahmte.
„Dann lieber fallen“ antwortete ich, seine helfende Hand annehmend. „Nur wer auch scheitert lernt neues.“
April 2021