Gedanken zum Nachdenken
Die Corona-Pandemie hat viele neue Seiten in der „Natur“ des Menschen an die Oberfläche gebracht. Wie sich der Mensch in Krisenzeiten verhält, das hängt von verschiedenen und teils individuellen Voraussetzungen ab. Einige Verhaltensweisen stechen jedoch durch ihre breite Streuung hervor und irritieren, wenn man bedenkt, dass sie eine Reaktion auf auf eine Krise sind, in der es um die Rettung des Menschen vor seiner unverschuldeten Ansteckbarkeit geht. Der folgende Beitrag ist eine teils ironisch philosophische Spurensuche nach dem, was Menschen im Angesicht des drohenden Lebensverlustes präferieren.
Vorbildliche Moral, und somit auch das gemeinhin als gut zu verstehende Handeln, bedarf der Qualität der Selbstlosigkeit. Nicht die Handlungen und Güter, die wir als gut erachten, taugen dabei als Vorbild für alle, sondern tendenziell eher solche, deren Gut für eine Allgemeinheit als ein solches erachtet werden kann. An erster Stelle steht in Bezug auf das als gut verstandene moralische Handeln also nicht das gute Handeln selbst, sondern die mit dem Inhalt des Handelns verbundene moralische Absicht. Eine gute Tat erfolgt dabei nicht aus schlichter Hörigkeit vor einem sittlichen Gesetz, sondern auf der vernunftbegleiteten Grundlage eines Gefühls der Verantwortlichkeit gegenüber demjenigen, was auch entgegen des eigenen Willens und der eigens priorisierten Bedürfnisse, unserer Unterstützung bedarf. So lässt sich Hans Jonas These dazu zusammenfassen (Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung). Kurz und plump gesagt: Wer ein guter Mensch sein will, der darf nicht auf andere scheißen. Das ist die moralische Minimalvoraussetzung auf dem Weg der Menschwerdung. Nein, ich möchte letzteres menschenwürdiger ausdrücken und es ersetzen mit: …auf dem Weg der Menschrettung.
Ein gut handelnder „Mit-Mensch“ muss dabei in der Lage sein, über den engen Horizont seiner eigenen sinnlichen Wahrnehmung und seiner Bedürfnisse hinaus eigenständig mitzudenken und mitzufühlen. Eigenständigkeit in diesem Prozess bedeutet, dass wir uns nicht alles unhinterfragt diktieren lassen dürfen. Blinder Gehorsam ist keine Moral. Der Weg zur Kultiviertheit bedarf zwar der Einhaltung gewisser Regeln, aber echtes Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Wahrheit lassen sich nicht durch Diktate erzwingen. Diktate schaffen und hinterlassen nur Angsteffekte, die nur den Schein wahren.
Die Neigung moralisch oder unmoralisch zu handeln, gründet immer auch in der Affizierbarkeit des Menschen, sonst wäre die Entwicklung eines Gefühls weder möglich noch relevant. Nun steht die Rettung der von Covid-19 bedrohten Menschheit gerade an oberster Stelle, also über dem wirtschaftlichen Herzkreislaufsystem, dessen Rettung in den letzten Jahrzehnten jeden moralischen Einwand souverän überschattet hat. Die neuartige, um nicht zu sagen mutierte, moralische Priorität lässt hoffen, denn sie signalisiert zumindest, dass die aufgestellten und verordneten Regeln, auf anständigen Affekten gründen. Vielleicht steckt in dem Anstand aber auch eine Spur von ökonomischem Opportunismus, denn was nützt schon ein leistungsstarkes Herzkreislaufsystem, wenn das Blut infiziert ist. Aber wenn wir von einer reinen, also infektionsfreien, Intention ausgehen wollen, dann rückt das Menschenbild damit von dem des homo oeconomicus zu einem homo providus. Die Zeit ist nachhaltiger und geduldiger als Geld und im Zeitraffer einer Krise wird sie offenbaren, was kein Journalist im hier und heute leisten kann: Die Offenlegung der politischen aber auch der gesellschaftlichen Prioritäten.
Es gilt also, wie so oft, abzuwarten, zu erdulden und zu hoffen. Die lebensqualitätsverrringernden Restriktionen dienen schließlich einem höheren Zweck und sind „nur“ zu „unserem“ besten. Nun ist aber das Aufstellen von neuen Regeln und Androhung von Strafe bei Verstößen, das zeigt auch diese Krise deutlich, nur die eine Seite der exekutiven Verdienstmedaille. Auf der anderen Seite liegen der Wille und die Einsicht der Bevölkerung die restriktiven Regeln auch einzuhalten. Logisch erschließen kann man sich die Wege des Regelungsdschungels jedenfalls kaum. Nun geht es ja nicht um Logik, sondern es geht um Moral. Doch selbst der moralische Wert vieler Regeln hat für viele einen teils geschmacklosen und teils bitteren Beigeschmack, weil die Regeln die Verantwortung gegenüber dem/(denen) vermissen lassen, was/(die) Covid-19 überdauern wird/(werden): Das verinnerlichte Stigma der Antastbarkeit der menschlichen Würde.
Die Politik hat die Aufgabe Entscheidungen zu treffen, die dem Wohl der Bürger dienen. Wer in der Politik nicht entscheidet, scheidet aus, damit ist nicht immer das Amt gemeint. Es ist jedoch selbst für Politiker nicht immer leicht, die richtigen Entscheidungen zum richtigen zu Zeitpunkt treffen. Die Richtigkeit einer Entscheidung hängt manchmal von der Geschwindigkeit ab, in der sie getroffen wird. Entscheidungen bei einer unberechenbaren Krise, wie sie von einer Pandemie ausgelöst wird, bieten den Entscheidern keinen großen Spielraum für Bedenkzeit. Als zeitgemäßer Entscheidungspolitiker ist es bei einer unbekannten Bedrohung das Beste, möglichst schnell zu reagieren. Der Politiker droht damit dem Aktionismus zu verfallen. Das „möglichst schnell“ steht also in Konflikt mit einem möglichst richtig. Die politische Handlungskompetenz ist in diesem Zusammenhang eine Variable, weil das, was kompetentes Handeln ausmacht, ebenso wie das, was als die richtige Entscheidung und als richtiger Zeitpunkt gilt, länder- und somit politikerspezifisch variiert. Auch die vor- oder nachgeordnete Reaktionsgeschwindigkeit und -fähigkeit der Behörden, des Gesundheitssystems, der Arbeitgeber und der übrigen „systemrelevanten“ Institutionen sind komplementäre Faktoren in den Variablen, die von Entscheidungspolitikern einkalkuliert werden müssen.
Mentalitäts-, charakter- und generationsbedingt zeigen sich bei der Umsetzung der Corona-Regeln deutliche Unterschiede bei der Akzeptanz. Das ist nicht verwunderlich, denn die Opfer dieses als Krieg bezeichneten viralen Angriffes auf das menschliche Leben, sind primär die Alten und Schwachen. Wer schwach ist, steht noch nicht eindeutig fest. Um in Bezug auf das Altsein nicht ähnliche Zweifel aufkommen zu lassen, wurde das so verstandene Alter des Alters nummerisch spezifiziert. Es liegt somit nahe, dass die Empörung und der Ärger im Namen der Risikogruppe (Ü55) und der Menschen mit Atemwegserkrankungen besonders groß ist, wenn sie bei anderen einen Mangel an Verantwortungsbewusstsein erkennen. Und wer eine solche Person in der Familie oder im Kreis seiner Freunde hat, der wird sich eines entsprechenden Verantwortungsgefühls ebenfalls nicht erwehren. Alle, bei denen der Zweifel über die Notwendigkeit der Regeln und der Ärger über die Einschnitte in ihrem Leben mehr wiegt, die sehen sich in einer unverhältnismäßigen Größenordnung ihrer bürgerlichen Freiheiten beraubt. Ein kollektiv angeordnetes Aussitzen des Problems kann nur schwer verdaut werden. Wo der Appell an das moralische Verantwortungsgefühl also nicht die nötige Zugkraft aufbringen kann, da muss legal nachgeholfen werden. Das hat die Politik schnell verstanden, zumindest gibt sie das medial zu verstehen. Der Virus ist damit, seiner Natur gemäß, zu einem Medium der gesellschaftlichen Polarisierung mutiert.
Die Aufgabe der zeitgemäßen Entscheidungspolitiker wäre es jetzt, wo der Virus seine Rolle in der Politik und in der Gesellschaft gefunden hat, die Folgen des wirtschaftlichen Wachkomas zu Ende zu denken. Ob sie es tun, lässt sich erfahrungsbedingt nur verlässlich bezweifeln und im besten Falle zweifelhaft hoffen. Hier kann man nur hoffen, dass die Kanonenschüsse auf die Covid-19-Spatzen nicht die pharmazeutische Lebensumgebung beschädigen, deren pathologisierte Ganzheit mehr ist als der unprivilegierte Teil, der von Covid-19 unwissentlich selegiert wird.
Fremdes verstehen wir nicht, das zumindest liegt nahe. Doch das Fremde ist oft nur befremdlich, weil oftmals wir nicht das mindeste tun, um es vertrauter werden zu lassen. Wenn wir nur das tun würden, was der Philosoph Immanuel Kant im 18. Jahrhundert bereits gesagt hat, nämlich den Mut zum Gebrauch unseres eigenen Verstandes zu finden, so würden wir nicht selbstverschuldet unser eigenes Unvermögen in Kauf nehmen. Aus Bequemlichkeit überlassen wir die Leitung unseres Verstandes lieber den Anderen. Damit sind wir nicht nur faul, sondern auch feige (vgl. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?). Es besteht kein Zweifel daran, dass Bequemlichkeit in der Natur des Menschen liegt. Denn, „es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Jeder Mensch hat auch einen homo ignavus (Nichtstuer) in sich. Für alles finden wir jemanden, der etwas für uns tut, was wir selbst tun könnten. Auch hier liegt jedoch ein Problem vor. Bei aller Neigung zur Untätigkeit, neigt der menschliche Geist aber auch dazu, das besonders zu wollen, was er gerade nicht bekommen kann. In diesem Fall heißt das: Wenn wir schon Müßiggang betreiben, dann doch bitte auch zu einem Zeitpunkt, den wir nach Bedarf selbst bestimmen können. Eine gesunde Demokratie gab es schon vor der Corona-Krise nicht, doch jetzt erscheint der „Verlust“ der demokratischen Werte in einem ebenso erschreckenden wie lähmenden Glanz.
Die Gesellschaft scheint sich in der Krise zu spalten. Doch was wir derzeit alle getrennt miteinander teilen, weil wir es teilen müssen, ist unser Dasein als homo clausus. Nicht in dem Sinne, den Norbert Elias gemeint hat, dass wir in unserem „Inneren“ von der „Außenwelt“ abgeschlossen sind, sondern in unserer Äußerlichkeit von der Außenwelt. Damit sind wir nun gewissermaßen doppelt eingeschlossen: In uns und zwischen uns. Im tragischsten aller Fälle, sind wir es alleine. Die wenigen urbanen Freigänge, die wir bedenkenlos vornehmen dürfen, sind noch diejenigen, die das eingeschlossene Überleben sicherstellen. Die von der Obrigkeit verordneten Auflagen machen aus diesem Akt der Verschlossenheit ein ungewohntes und bedenkliches Spektakel. Hier zeigen sich unterschiedlichste neue Stärken und neue Schwächen in uns an der Gesellschaft, der Gemeinschaft und den Individuen.
Die Hysterie über den Virus wird zu einer virulenten Hysterie, die auch das dunkelste im Menschen an die Oberfläche bringt. Bedenkt man, welche Prioritäten sich am unbedachten Konsumverhalten der deutschen Seele im Angesicht einer als tödlich postulierten Bedrohung geoutet haben, dann wird das zu einem Wortspiel, dessen Tiefsinn nicht nur den Verschluss der Augen vor dem Gesamtproblem zum Vorschein bringt. Reinheit als das oberste Gebot, ist mehr als nur ein geruchsneutraler Spruch des Volksmundes, es ist die Vorlage für eine Krise in der Krise. Der homo hygienicus, der krisenbedingt zum Hausarrest verdonnert und damit gezwungen wird den Virus stoisch auszusitzen, der muss beim Sitzen scheinbar nicht nur mit seinem Gewissen im Reinen sein. Das metaphorische Verbindungsglied zwischen dem Klopapier in der Toilette und der Küche schafft in Deutschland nicht, wie wohl das Stereotyp es in Frankreich tut, das Kondom, sondern die Nudeln. Und um den Nachschub im doppelten Sinne sicherzustellen, wird noch gehamstert, was aus oder zu Nudel werden kann: Das Mehl, denn selbst das Ab- und Aussitzen kostet Kraft und somit Kalorien. Ich für meinen Teil, bin beruhigt, dass es nicht wie in den USA Waffen sind, die vermehrt gekauft werden, um die Folgen der Pandemie abzuwehren. Besser wir scheißen uns durch die Krise und scheißen dabei noch aufeinander, als dass wir uns durch sie und auf uns schießen.
Eines lässt sich bei all den sichtbaren und unsichtbaren fäkalen Ausgüssen sicher sagen: Die ausbremsende Bekämpfung eines ebenso fremden wie unsichtbaren Feindes wird unverkennbar sichtbare Spuren hinterlassen und das nicht nur auf den weggespülten Wischvorlagen der Hamster im Rad. Die Fortsetzung der „Virenbekämpfung“ nach Covid-19 wartet schon jetzt in Form von Flüchtlingen an und vor den Toren Europas, um schon morgen das Abendland erneut wellenartig zu „überfluten“ oder zu „infizieren“. Doch Viren wird trotz ihrer unscheinbaren Existenz aktuell mehr Präsenz und Relevanz zugesprochen. Denn anders als einige Islamisten, schlafen Viren und ihresgleichen nie. Auch für den folgenden Befall wird schon fieberhaft nach einem nachhaltigen Impfstoff gesucht. Letztlich ist nur das garantiert: Die Ängste und Gefahren gehen uns nicht aus, wie das Klopapier in den Regalen unserer vollgestopften Einkaufszentren. Die pandemische Infektion Angst, werden wir nie los, ebenso wie die Unsicherheit, wann sie berechtigt ist und wann nicht.
Die Gewissheit, dass der Mensch auch ein homo discens also ein lernender Mensch ist, wenn er auch selten aus seinen Fehlern lernt, lässt zumindest hoffen, dass sich nach der Krise etwas verändert. Mit Sicherheit wird auch Gutes dabei sein und das nicht nur für uns. Bei all dem Leid, dass der Virus anrichtet, gibt es eine positive Kehrseite. Die Abnahme der CO2 Emissionen. Damit lässt sich dem Virus eine moralische Glanzstunde zusprechen, weil nur er geschafft hat, was 1000 zornige Thunbergs nie hätten vollbringen können: der Welt eine Pause von den Flatulenzen der unverdaulichen Maßlosigkeit des menschlichen Treibens zu verschaffen. Die Welt atmet sich gesund, während wir Angst haben müssen uns krank zu atmen. Welch eine Ironie. Ob es sich um einen Virus oecologicus handelt, der das beste aller möglichen „Klimarettungsprogramme“ ist, was der Mensch bekommen kann, bleibt abzuwarten. Selbst den Rechten, bleibt die braune Spucke weg. Ich würde den Virus deswegen jedoch weder mit dem Friedensnobelpreis auszeichnen noch heilig sprechen wollen, auch wenn einige Schädlinge, vielleicht nahe Verwandte im Menschenkleid, mit weniger schon damit beehrt wurden.
Um nicht als homo ignorans in die zukünftige Geschichte ein und aus der gegenwärtigen Geschichte hervorzugehen, sollten wir, im Sinne unserer Politiker, so idiotensicher wie möglich vorgehen: Erst handeln, dann hoffen und während dessen darüber nachdenken, wie man die Hoffnung am Leben erhält. Hauptsache am Ende erweist sich der Verzicht auf das Leben um des Überlebens willen als eine menschenwürdige Lebensverlängerung und nicht als ein weiteres machthungriges Rollenspiel einer ebenso intransparenten wie dünnflüssigen Politik, in dem das Volk die Wischablage ist.
Solange zumindest die künstlich am leben gehaltene Hoffnung sauber gehalten wird, können wir den Ballast der Enttäuschung stets wiedererleichternd abwerfen. Für die psychische Mindestreinlichkeit sorgen unsere Krisenmanager immer rechtzeitig. Zuletzt bleibt dem sich zunehmend entmündigenden Bürger und somit dem Bürger „zweiter Klasse“ vielleicht nur die Hoffnung, das die Politik nicht nur nach Äußerlichkeiten agiert, dabei ans Äußerste geht und unser Inneres veräussert.
März 2020