Gedanken zum Nachdenken
Postdemokratie ist ein Krisenbegriff. Die Krise, die damit zum Ausdruck gebracht wird, ist eine zweifache. Zum einen versucht man mit diesem Begriff die Situation innerhalb einer politischen Struktur zu beschreiben, die äusserlich betrachtet demokratisch ist, innerhalb der es jedoch aufgrund marktliberaler Entwicklungen zu einer demokratieschädlichen Überlagerung zwischen politischen und (oder gar durch) wirtschaftliche(-n) Kategorien gekommen ist. Zum anderen, und damit möchte ich gleichsam meine kritische Interessenlage an diesem Begriff zum Ausdruck bringen, wird durch das Präfix „post“ die neue Pathologie eines demokratischen Istzustandes denotiert, mit dem einem alten, anhaltenden aber unkenntlich gewordenen Ohnmachtsgefühl, ein neuer Ausdruck verliehen wird. Auf die denotative Funktion des Präfixes „post“, die zu einer Sensibilisierung für eine im Grunde niemals ausgeräumte, aber sprachlos gewordene Ohnmacht beitragen soll, werde ich, im Anschluss an meine kritischen Ausführungen über das Korrelationsverhältnis zwischen Massenmedien, Wirtschaft, Politik und politischer Meinungsbildung, noch näher eingehen. Die theoretische Ausgangslage meiner Ausführungen bildet Colin Crouchs Definition von Postdemokratie aus seinem gleichnamigen Buch.
Nun möchte ich mich, wie der Titel des Aufsatzes es bereits erahnen lässt, nicht nur kritisch mit dem Begriff Postdemokratie auseinandersetzen, sondern auch mit jenen Problemen, die sich unter dem Einfluss von ökonomischen Interessen und/oder durch den inadäquaten Einsatz von massenmedialer Berichterstattung in die Prozesse der politischen Meinungsbildung ergeben. Die rhetorisch erscheinende Frage, die sich in dem eben genannten Problemkontext stellt, ist, ob sich demokratische Politik mit massenmedial induzierter Entscheidungslenkung oder Willensbildung und unter ökonomisch ungleichen Machtverhältnissen vereinbaren lässt.
Im Kontext der crouchschen Reanimierung eines politischen Krisenbewusstseins durch die Popularisierung des Begriffs Postdemokratie, stellt sich des Weiteren die weniger rhetorische Frage, ob eine Demokratie ohne Krise überhaupt denkbar oder sogar realisierbar ist. Auch in diesem Zusammenhang stellen sich weitere Fragen wie:
Um diesen Fragen nachgehen zu können, möchte ich zunächst einen kleinen Exkurs zu den Anfängen der Demokratie machen, um, unter Berücksichtigung der historischen und philosophischen Diagnosen der damaligen Zeit, die demokratische Situation von heute beurteilen zu können.
Der Begriff Demokratie steht für eine Staatsform oder Herrschaftsordnung, in der das Volk (Demos) die Entscheidungsmacht an politische Vertreter seiner Wahl delegiert. Aristoteles definiert die Demokratie in seinem Werk Politik als eine Teilhabe großer Bevölkerungsschichten an politischen Prozessen und somit somit auch an der Herrschaft innerhalb eines Staates über die staatlichen Prozesse (vgl. Aristoteles, Politik III). Der demokratische Idealstaat wird zudem als eine Gemeinschaft von Gleichen zum Zweck des möglichst besten Lebens beschrieben. Soviel zum philosophischen Verständnis der Demokratie kurz nach ihrer Begründung.
Der Begründer der Demokratie oder besser gesagt, die entscheidende Schlüsselfigur, die eine Änderung der vordemokratischen, monarchisch-aristokratisch und tyrannisch geprägten politischen Situation im 6. Jhd. v. Chr. einleitete, war der athenische Staatsmann, Feldherr und Dichter Solon (ca. 640-560 v. Chr.). Das Ziel der solonischen Gesetzesreformen bestand darin, die Ursachen für die staatliche Krise seiner Zeit zu beseitigen und die politische Ordnung durch eine Integration der Majorität der Bürger sowie der gleichzeitigen Minderung des politischen Einflusses des Adels wiederherzustellen. Solon gelang damit ein bedeutender Schritt zur Verringerung der durch die Tyrannis herrschenden Dysnomia und Anomia hin zu einem geordneten Zustand einer Eunomia, also einer politischen Ordnung, die auf das Prinzip der Gleichheit (Isonomia) zwischen allen Bürgern und der Mitbestimmung der Bürger bedacht ist (vgl. Tsigarida, Isabella: Solon. Der Begründer der Demokratie? S. 62). Tätige Bürger wurden bei politischen Mitbestimmungen privilegiert. Solon zielte damit vermutlich darauf ab, die Untätigkeit oder Apathie in der Bevölkerung nicht gleichzusetzen mit Fleiß und Tatendrang. Auf diese Weise erhielt die Demokratie eine timokratische Komponente.
In der Demokratie der Antike haben sich die männlichen Bürger einer Polis zunächst auf der Agora anschließend (um 508 v. Chr.) in der Pnyx und (ab 330 v. Chr.) schließlich im Dionysos-Theater versammelt, um das politische Geschehen mitzubestimmen. Die Mitbestimmung, die seit der Etablierung eines Losverfahrens (Ostrakismos) durch Kleisthenes, die Möglichkeit für politische Personalentscheide bot, galt als ein Instrument, das die Gleichheit aller Bürger die Harmonie zwischen ihnen fördern und die politische Macht gegen den Einfluss von Tyrannen und des Adels absichern sollte (vgl. Thiem, Andrea-Christina: Die Verfassung Athens in 5. Jhd. v. Chr.).
Um von den Erfahrungen in der Antike zu denen in der Gegenwart zu gelangen und mich nicht in Einzelheiten über die Entwicklung und Funktion der antiken Demokratie zu verlaufen, möchte ich abkürzend zu jenen Diagnosen kommen, die von einigen Autoritäten und Zeitzeugen jener Zeit schriftlich überliefert sind. Einer dieser Zeitzeugen war der bekannte athenische Historiker und Stratege Thukydides, der die Erfahrungen mit der Demokratie nach den Reformen Solons und denen seiner bedeutendsten Nachfolger Kleisthenes, Efialtes und Perikles auf den damaligen Punkt bringt. Thukydides bemerkte bereits, dass die Demokratie als Staatsform nur dem Anschein nach besteht, aber de facto durch aristokratisch ausgeprägte Führungsschichten regiert und mittels sophistischer Techniken von Demagogen gesteuert wird, die den Bürgerwillen zu ihren Gunsten lenken. Ein Umstand, der auch von Aristoteles in „seiner“ Schrift Der Staat der Athener kritisch bemerkt wird und seinen wahren Kern bis heute bewahrt hat.
Um die kollektive Aufmerksamkeit auf eine effiziente Weise zu fokussieren, zu erregen und zu binden, war es bereits in den Anfängen der Demokratie entscheidend, eine Mischung aus architektonischen und sprachlichen Prämissen zu schaffen. Architektonisch wurde der Fokus der Aufmerksamkeit durch die Anordnung der Sitze präfiguriert. Zuerst durch Nutzung hügelartiger Erhebungen, auf dessen höchstem Punkt der jeweilige Sprecher stand (Pnyx), dann durch die Nutzung des Theaters, mit dem sich die Aufmerksamkeit der partizipierenden Bürger akustisch vorteilhafter nutzen und den Redner auch optisch noch in den Fokus rücken lies. Auf der ebenerdigen Agora zerfiel die Öffentlichkeit dagegen in viele Subzentren, Attraktoren und Gruppen. Um Wirkung erzielen zu können, musste also schon der Raum der politischen Entfaltung hierachisch vorstrukturiert sein.
Wie verhält es sich diesbezüglich nun in der Gegenwart?
Auch die Demokratie von heute wird als ein politisches System verstanden, indem das Volk der souveräne Träger der Staatsgewalt ist. Die meisten demokratischen Systeme von heute beruhen auf einer repräsentativen Herrschaft, die durch Wahlen entschieden wird. Repräsentativ ist die Herrschaft, weil nicht das Volk selbst, genauer die Aktivbürgerschaft, also jene, die am politischen Geschehen teilnehmen können und wollen, die Regierungsangelegenheiten übernimmt, sondern die vom Volk gewählten Volksvertreter.
Mehr als je zuvor ist die moderne Demokratie bzw. die damit einhergehenden politischen Kampagnen und Wahlkämpfe stark mediatisiert. Mit dem Aufstieg des Fernsehers zum Leitmedium der durch die Innovationen in der Warenproduktion zur Massenware wurde, wurde es möglich, eine einst disperse Öffentlichkeit zusammenzuführen. Indem die Massenmedien Eingang in die Haushalte der Menschen gefunden haben, wurde die Welt zu einem Dorf, wie es der bekannte Medienwissenschaftler Marschall McLuhan formuliert. Mit der Schaffung dieser virtuellen Agora, also der Konstituierung einer politischen Öffentlichkeit, können wir also zunächst von einer demokratisierenden Funktion der Medien sprechen, zumal sie es allen Bürgern gleichermaßen ermöglicht hat, und es noch tut, sich an einer gemeinsamen „Realität“ zu beteiligen.
Die distributive, informative und selektive Funktion von massenmedial lesbar, hörbar und/oder sichtbar gemachten Inhalten, ist mittlerweile ein integraler Bestandteil von politischen Kommunikationsmaßnahmen. Die Feststellung, dass Massenmedien damit zu einem erheblichen Teil öffentliche Meinungen generieren, politische Entscheidungsfindungen beeinflussen und auf selektive bzw. gezielte Weise die Aufmerksamkeiten der Rezipienten steuern, ist mittlerweile trivial. Es ist längst bekannt, dass Medien bestimmte Agenden vorgeben, die in der politischen Öffentlichkeit behandelt werden. Neutral und vielleicht etwas naiv betrachtet, könnte man auch sagen, dass massenmedial induzierte Agenden ganz bestimmten Aspekten zu einer Publizität verhelfen, die es den Bürgern ermöglicht, sich eine Meinung darüber zu bilden. Problematisch dabei ist der Umstand, dass Medien dabei eine einseitige, d. h. rückkoppelungsfreie (vgl. Maletzke, Gerhard: Psychologie der Massenkommunikation) Orientierungs- und Integrationsfunktion bilden. Letzteres tun sie, indem sie Informationen und Nichtinformationen (bereits mitgeteilte Informationen) an ein disperses, also in räumlicher und zeitlicher Distanz zueinander befindliches Publikum, verbreiten. Indem Medien als die primären Indikatoren für Bürger fungieren, um sich Meinungen über Sachverhalte zu bilden, die außerhalb ihres unmittelbaren Erfahrungshorizontes liegen, stellen sie zugleich einen wesentliche funktionale Instanz der politischen Informations- und Kommunikationspraxis und eine Voraussetzung für ein demokratisches Gemeinwesen in der Moderne dar.
Die zunehmende Mediatisierung der kommunikativer Akte und ihre Verbreitung durch Massenmedien führte jedoch nicht nur Menschen „zusammen“, sie führte auch zur Entstehung einer neuen Präsentations- und Darstellungsweise. Mediale Darstellungen machen es leicht, Informationen in einen passgenauen Kontext zu setzen und unerwünschte Anteile auszublenden. Als solche erfordern politische Kampagnen eine mediengerechte Inszenierung, d. h. eine dramaturgische Aufbereitung, die unweigerlich zu einer Relativierung des primären Zwecks von Politik führt. Politische Kommunikation ist mehr denn je zu einer Strategie der gezielten Ablenkung geworden. Massenmedien dienen massenwirksam der Rechtfertigung und somit der Legitimation von politischen Interessen ohne ein ausreichendes Maß an kommunikativer Transparenz zu bieten.
Wenn also Kommunikation zur partiellen Desinformation und zur reflexionsfeindlichen Erregung von Affekten genutzt wird, dann werden durch sie gezielt Ungewissheiten auf der einen und perspektivische Wahrnehmungen auf der anderen Seite verstärkt. Hat man einmal Ungewissheiten und perspektivische Wahrnehmungen massenmedial in die Welt gestreut und somit den Wunsch nach einer Katharsis geschaffen, dann kann man leicht die eigene Handlungsanweisung rechtfertigen und die Mittel der vermeintlichen Behebung der Ungewissheit oder Lösung des hervorgehobenen Problems als Erfolgsstrategie zu verkaufen. Legitimationswürdig ist eine Kommunikation, die dem Bürger das Recht der Entscheidungsfreiheit zuerkennt und nicht über eine Kontrolle des Kontextes die Blickweite verkürzt oder die Blickschärfe trübt.
Auf massenmedialer Ebene stellt sich Glaubwürdigkeit nicht durch eine komplexe Wahrheit, sondern am ehesten durch die Klarheit einer Botschaft ein. Wer die Ursachen für die Unzufriedenheit nicht nur am klarsten, also vereinfacht formuliert, sondern auch noch sensationserheischend präsentiert, das haben die populistischen Kampagnen von Jörg Haider, Pim Fortuyn, Marie le Pen, Christoph Blocher oder Nikolaos Michaloliakos gezeigt, wird auf der politischen Bühne die erforderliche Aufmerksamkeit der Leser, Hörer oder Zuschauer finden. Demokratische Parteien, die keine Sensibilität für die Unzufriedenheit und die Unsicherheiten der Wähler entwickeln und das Orientierungsbedürfnis derselben somit nicht befriedigen, verleiten letztlich zu antidemokratischen Alternativen, die, von den wahren und komplizierteren Problemen ablenkend, solche präsentieren, mit denen sich Emotionen erzeugen lassen, die keiner aufwendigen Rechtfertigung bedürfen. Man verspricht die Fremden zu benachteiligen und die vorerst besänftigten Bürger danken es ihnen mit ihrer unmündigen Stimme.
Zweckgerichtete und selektive Informationsverarbeitung (framing) und -vermittlung stehen vor einer unparteiischen, ungezwungenen Aufklärung, skrupelloser Wettbewerb vor solidarischer Gesinnung, emotionalisierende Irreführung und Zerstreuung vor Klarheit und Kohärenz, politische Mythen vor politischer Realität. Vor diesem Hintergrund, so scheint es, übernimmt der Bürger vielmehr die Funktion eines narkotisierten oder hypnotisierten Konsumenten und immobilisierten Beobachters als die eines mündigen und kritischen Teilnehmers an politischen Vorgängen (vgl. Chomsky, Noam: Media Control).
Instanzen, die darüber entscheiden können was diskutiert und gezeigt und wie etwas dargestellt wird, können somit auf subtile Weise Einfluss darauf nehmen, worüber der Rezipient nachdenkt. In der Medienpsychologie spricht man hierbei von dem Awareness-Modell. Um klären zu können inwieweit Medien dabei den demokratischen Prinzipien dienen, muss man also zunächst der Frage nachgehen, wer die Agenda der Medien setzt?
Welche Agenda in den Medien den Vorzug bekommt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst einmal hängt dies von objektiven Selektionskriterien, wie Produktionszeit oder Nachrichtenwert und Nachrichtenformat ab, die dem Postulat der Aufmerksamkeit dienen. Ein weiterer, ganz entscheidender Gesichtspunkt ergibt sich auch aufgrund eigener wirtschaftlicher Interessen. Die neoliberal aufgezwungene ökonomische Orientierung der Medienunternehmen, die einem Kampf um Quoten und Auflagen, kurz einem Kampf um überlebenswichtige Ressourcen unterworfen ist, führt schließlich auch dazu, dass es zu „Medienkonzentrationen mit oligopolischer Stellung am Markt“ (Wimmer, Johann: Evolution der Politik. Von der Stammgesellschaft zur modernen Demokratie), kommt. Die Ursache dafür ist einfach. Große Unternehmen sind in der Lage bestimmte politische Organisationen finanziell zu unterstützen, an deren Resultaten sie ein direktes Interesse haben und schaffen damit Zugangsbarrieren für kleinere Unternehmen. Ihren wirtschaftspolitischen Einfluss können Großkonzerne noch dadurch stärken, dass sie wettbewerbsschwachen Medienunternehmen die nötigen Ressourcen (Geld und Informationen) anbieten oder in Form von Lobbyarbeit und Preisdrücker-Taktiken entgegenstellen. Nur selbstständig überlebensfähige, d. h. kapitalreiche Medienunternehmen, können es sich leisten, nach mehr oder weniger eigenem Ermessen zu agieren oder zu kooperieren. Auf diese Weise erlangen große Konzerne einen privilegierten Zugang zur und Einfluss auf die Politik.
Die Nachrichten und die durch sie vermittelten Informationen sind Ware oder Waffe in einem Machtkampf, der oft Kollateralopfer in Kauf nehmen muss und es nur allzu oft tut. Monopolstellungen innerhalb der politischen Kommunikation beeinflussen oder beseitigen sogar die Wahlmöglichkeiten und ohne Wahlmöglichkeiten kann es keine Demokratie geben. Wenn wir hinnehmen müssen, was an-geboten wird, so gleicht das einer sanften, subtilen Diktatur, in der wir zum Werkzeug verdinglicher Praxis degradiert werden.
Vollständige oder einseitige Abhängigkeiten sind demokratiefeindlich. Die Möglichkeiten zur gegenseitigen Einflussnahme zwischen diesen Machtinstanzen führen zu einer ausgleichenden Machtkorrelation zwischen ihnen. Die Wirtschaftsinstanzen stärken ihre Marktmacht durch Einflussnahmen auf die Inhalte der medialen Berichterstattung und damit auch auf die politische Agenda. Politischer Erfolg untersteht den Prämissen der Medientauglichkeit und Medien sind ihrerseits auf wirtschaftliche Unterstützung angewiesen, um auf dem Markt bestehen zu können. Aufgrund dieser wechselseitigen Angewiesenheit, die von ökonomischen Zwängen bedingt ist, sind die wirtschaftsschwächsten gezwungen sich marktfreundlichen Interessen unterzuordnen oder sich mit den Interessen derselben zu arrangieren (vgl. Noam Chomskys Propagandamodell). Wirtschaftliche Monopolstellungen führen letztlich zu einer Begrenzung der Wahlmöglichkeiten und somit zu einer Zwangskooperation. Zwang ist ein Kennzeichen für Diktaturen oder Tyranneien und diese bedürfen im Gegensatz zu Demokratien keiner nennenswerten Denkanstrengung. Demokratische Positionen legitimieren sich somit nicht mehr vornehmlich durch politische Widerstände, sondern „an systemischen Imperativen eines ausdifferenzierten Wirtschafts- und Verwaltungssystems“ (Habermas, Jürgen: Ein normativer Begriff der Öffentlichkeit).
Damit lässt sich folgendes zusammen:
Die demokratische Meinungsbildung und Partizipation der Bürger wird vor allem durch vier Faktoren beschränkt:
Der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch beschreibt den von ihm geprägten Ausdruck „Postdemokratie“ mittels einer logischen Unterscheidung zwischen drei Phasen, die er symbolisch als x– > x > x+ angibt. Das „post“ steht dabei für die dritte Phase x+, die über die zweite, diejenige der Demokratie x, hinausgeht. Die erste Phase ist als eine prädemokratische Phase zu verstehen und lässt somit als ein x– abkürzen. In der dritten Ebene x+, so Crouch, bewegen wir uns über x hinaus. X steht für die Möglichkeit und die Fähigkeit des Individuums, in Entscheidungen und Kontrollen von Staat und Gesellschaft einzugreifen. Von einer Steigerung, also einem x+, erwartet man eine Verbesserung dieser Möglichkeit und damit eine Annäherung an das mit den demokratischen Prinzipien verbundene Ideal. Doch gerade in den zukunftsorientiertesten Gesellschaften wie der USA, die für den demokratischen Fortschritt einst Vorbildlichkeit bewiesen haben, zeigt sich diesbezüglich die Rückentwicklung am stärksten. Aber nicht nur in den USA lassen sich mittlerweile die Kennzeichen vordemokratischer Gesellschaften beobachten. Diese äußern sich durch privatwirtschaftliche oder staatliche Machtkonzentrationen, die aufgrund ihrer ökonomischen Effizienz einen privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungsträgern erlangen und so Ungleichgewichte schaffen, die die demokratische Vitalität einschränken.
In einer Postdemokratie, so Crouch, bleiben die demokratischen Institutionen und Prozeduren auf ihrer formal-institutionellen Ebene erhalten, aber ihre faktische Bedeutung für demokratische Entscheidungen gehen verloren Die Bürger eines Demos sind zwar nicht de jure, aber sie sind de facto entmachtet. Postdemokratie ist somit der Ausdruck für eine Scheindemokratie, die sich mit dem institutionellen Kleid einer vollwertigen Demokratie verstellt. „Demokratie ist zu einer Klassenideologie zur Rechtfertigung von Systemen geworden, die das Regieren einem kleinen Personenkreis überlassen – und sozusagen ohne das Volk regieren.“ (Ross, Kristin: »Demokratie zu verkaufen«. In: Demokratie? Agamben, Giorgio [Hrsg.]) „Tatsächlich sind alle fortschrittlichen Demokratien von heute oligarchische Demokratien.“ (ebd.).
Die Beifügung des Präfixes „post“ (räumliches und zeitliches „nach“, „hinter“) suggeriert den Abschluss von etwas, eine Veränderung, Fortschreibung und Überwindung, die lediglich Ausdruck für ein neues Verständnis der Ohnmacht, für eine neue Aporie ist. Als solches erweist das innovative Potential des Präfixes als trügerisch. Die Verbindung zwischen dem Begriff Demokratie und dem Präfix „post“ suggeriert zum einen eine neuartige Krise der Demokratie und zum anderen einen gesicherten Ausgangspunkt hinsichtlich der Definition des Grundbegriffes. Doch weder ist die Krise der Demokratie aufgrund der „Hegemonie des Kapitalprinzips“ (Lambrecht, Lars: »Demokratie«. In: Hans Jörg Sandkühler [Hrsg.]. Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Bd. 1) eine neue Erscheinung, noch kann man von einem bestehenden Verständnis ausgehen, das durch eine Präfigierung mit „post“ eine semantische Bereicherung erfährt. Demokratie ist ein Fall von Unbegrifflichkeit. Trotz der von Crouch vielleicht übersehenen logischen Ungereimtheit, die mit der eben genannten Zusammensetzung einhergeht, lässt sich der pragmatische Nutzen des Präfixes „post“ nicht leugnen. Sein Nutzen ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass es eine verborgene, unverstandene oder möglicherweise vergessene Unmöglichkeit hervorhebt. In dieser sensibilisierenden Funktion kann das „post“ als eine Reanimierung eines Trugschlusses bzw. als Versuch aufgefasst werden, die verborgene Wahrheit hinter der lügenumwobenen Worthülse kenntlich zu machen, deren Symbolcharakter, nach langem Gebrauch kanonisch und verbindlich erscheint (Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn).
Die eigentliche Wahrheit, die sich hinter dem Wort Demokratie verbirgt, korreliert nicht mit derjenigen, die es evoziert. Denn die Demokratie ist keine politische Realität, sondern eine politische Utopie, von der man vergessen hat, dass sie eine ist. Genau genommen verweist das Präfix „post“ vor Demokratie somit nur tautologisch auf die Heterogenität einer Chimäre, auf die Präsenz eines antiken Gespensts, d. h. auf eine politische Idee. Aufgrund seiner in moralischer Hinsicht positiv konnotierten Unbegrifflichkeit, Virtualität und Plastizität ermöglicht es der Ausdruck Demokratie bis heute den Glauben an ebenso irreale Werte, wie Gleichheit oder Freiheit zu evozieren, mit denen sich politische Mehrheiten schaffen und die Despotien einer wettkampforientierten Minderheit legitimieren lassen.
In diesem Sinne ist die Demokratie, die uns angeboten wird, ein mokantes und pseudoparlamentarisches Akklamationssystem, deren normative Kräfte unter der Kontrolle eines dominanten wirtschaftlichen Klientels stehen oder von diesem untergraben werden. In ihrer reinen Form ist und war Demokratie immer schon ein unverwirklichtes, niemals ruhendes Projekt ohne feste politische Grundlage. Mit anderen Worten: Demokratie liegt und lag immer nur unrein als depotenzierte Mischverfassung vor. Obwohl im Ideal einer demokratischen Verfassung Freiheit und Gleichheit vorgesehen ist, vermag keine Gemeinschaft von Menschen – die zugleich einen Anspruch auf Individualität erheben – diese Werte zu realisieren, geschweige denn zu sichern. In der Praxis können Freiheit und Gleichheit in einer Gemeinschaft von verschiedenen Individuen mit unterschiedlich großem kulturellen und ökonomischen Kapital (vgl. Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht) niemals gleichzeitig gewährleistet werden. Diese Einsicht hat man bereits in der Antike erlangt und sie zeigt sich bis heute in der politischen Praxis, deren demokratische Oberfläche nicht zuletzt von der Macht der Großen (Konzerne) und ihren medialen Dispositiven preisgegeben wird.
Angesichts der Ohnmacht des Bürgers gegenüber einer übermächtigen, neoliberalen d. h. sich marktwirtschaftlich entfaltenden Dynamik, müssen wir uns daher fragen, welcher Wert für ein erfolgreiches Zusammenleben wichtiger ist. Dabei gilt es zunächst einmal für sich selbst die inhärente Frage zu klären, welche Freiheit für uns und für unser Leben in einer Gemeinschaft von heterogenen Bedürfnissen, Wünschen und Ansprüchen wünschenswert ist. Es muss uns klar werden dass es Freiheiten gibt, die die demokratische Freiheit untergraben, wenn sie gewährt und akzeptiert werden.
Die neoliberale Rationalität, so Wendy Brown, verdrängt durch ihre unternehmerischen Grundsätze, zwar nicht die Aussicht auf aber doch jede Möglichkeit für eine demokratische Politik. Die Durchsetzung des neoliberal und oligarchisch regulierten Marktprinzips, verlangt nach einer Zügelung der radikalen Dimension der Demokratie im Sinne einer Souveränität des Proletariats.
Der idealisierte Kampf für Demokratie ist ein Kampf von Bürgerinnen und Bürgern gegen eine ökonomische Hydra im Gewand eines politischen Wohltäters, der gleich einem Simulakrum, die Unvereinbarkeit und Machtlosigkeit einer Masse medial dissimuliert. Die demokratische Sprengkraft eines politischen Gemeinwesens lässt sich zügeln oder sogar fesseln, sobald politische Akteure seine legitimen Bedürfnisse kennen und sie durch verführerische Methoden für eigene Zwecke nutzbar macht. Die Einwirkungen massenmedialer Dispositive auf das Abstimmungsverhalten führen dazu, dass die synergetische Dynamik der demokratischen Subjekte umgelenkt und reserviert bleibt. Die massenmediale Okkupation der demokratischen Meinungsbildung bewirkt bei der Wählerschaft eher eine politische Apathie, die zu einem Hinweg- oder Übersehen jener Momente nötigt, die sich als antidemokratische Syntax hinter den falschen Widersprüchen und von fremden Interessen geleiteten, Medienkampagnen verbergen.
Trotz oder gerade wegen ihrer Referenzlosigkeit und Widersprüchlichkeit führt der Ausdruck Demokratie eine Reihe von positiven Konnotationen mit sich. Es ist allerdings auch diesem trügerischen Deckmantel von Konnotationen zu verdanken, dass sich die Demokratie als repressives Instrument zur Durchsetzung von neoliberalen oligarchischen Wirtschaftsinteressen bewährt. Neu ist diese Einsicht trotz der Beifügung eines Präfixes nicht. Das Präfix „post“ trägt in keiner Weise zu einer Klärung dieses bis heute unerklärten Begriffes bei. Aber es ist und bleibt wichtig zu verstehen, dass nicht alles, was unter dem Deckmantel der Demokratie rechtlich durchgesetzt wird, auch wirklich demokratisch oder gar gerecht ist. Wichtig ist das Wort, denn der Mensch braucht Worte, damit er seine Stimme erheben kann, selbst dann, wenn sie ihn von den Dingen und anderen Menschen trennt (vgl. Legendre, Pierre: Die Fabrikation des abendländischen Menschen).
Vor dem Markennamen Demokratie wird ein Ideal präsentiert, das mit dem diabolischen Paar Freiheit und Gleichheit verkauft wird. Die Antinomie, die aus der Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit entsteht, bringt das demokratische Herz zum Schlagen und zugleich erzeugt sie, in Verbindung mit wirtschaftlichen Interessen und Machtstrukturen, jene anhaltend unberechenbare Inkommensurabilität, die aus den Attributen Freiheit und Gleichheit von souveränen Staatensubjekten das demokratische Gesamtgefüge eher in einen maßlosen und ungleichen Wettbewerb als in eine maßvolle egalitäre Gemeinschaft führt. Auch in der Politik lassen wird uns das Gleiche verkaufen, indem wir uns vom Reiz der neuen Erscheinungsformen überwältigen lassen. Die Scheinrealitäten der Demokratie, die wir immer wieder kaufen oder teuer in Kauf nehmen, sind ein nützlicher Appendix wirtschaftspolitischer oder aristokratisch-oligarchischer Dispositive. Sie lassen die unumstößliche Tatsache verkennen, dass Demokratie immer nur erzeugt oder erneuert werden muss, aber niemals kommen wird. Sie ist und bleibt ein lebendes Versprechen (vgl. Derrida,Jacques: Schurken). Und wenn die Realisierung der Demokratie auch nicht die möglichste unter allen politischen Regierungsformen ist, so ist sie zumindest die scheinheiligste.
August 2014